Seit Sommer 2016 führen Innsbrucker Archäolog:innen in der Kärntner Gemeinde Irschen Grabungen in einer spätrömischen Höhensiedlung durch. Vor zwei Jahren haben sie eine sensationelle Entdeckung gemacht: Ein christlicher Reliquienschrein war noch in einer bisher ebenfalls unbekannten Kirche verborgen. Darin enthalten: Eine reich verzierte antike Reliquiendose aus Elfenbein.
Am 4. August 2022 hat ein Forscher:innenteam um den Archäologen Gerald Grabherr in einer frühchristlichen Kirche auf dem Burgbichl in der Kärntner Gemeinde Irschen eine spektakuläre Entdeckung gemacht: Im Bereich der Seitenkapelle war unter dem Altar ein etwa 20 mal 30 Zentimeter großer Marmorschrein verborgen. Im Schrein ist eine stark fragmentierte, mit christlichen Motiven reich verzierte „Dose" (Pyxis) aus Elfenbein enthalten - ein Reliquiar, das normalerweise als „Heiligstes" mitgenommen wird, wenn eine Kirche aufgegeben wird. In diesem Fall ist es allerdings zurückgeblieben. Es handelt sich dabei um die erste entsprechende Pyxis, die in Österreich in archäologischem Kontext gefunden wurde. „Weltweit wissen wir von circa 40 derartiger Elfenbeindosen, bei Grabungen ist meines Wissens eine solche zuletzt vor inzwischen rund 100 Jahren gefunden worden - die wenigen Pyxiden, die es gibt, sind entweder in Domschätzen erhalten oder in Museen ausgestellt", erläutert der Finder Gerald Grabherr.
Aufwändige Konservierung
In der Zeit seit dem Fund wurde das rund 1.500 Jahre alte, sehr zerbrechliche Reliquiar aus Elfenbein an der Universität Innsbruck konserviert. „Elfenbein, zumal bodengelagertes Elfenbein wie im Marmorschrein, nimmt die Feuchtigkeit der Umgebung auf und ist in diesem Zustand sehr weich und leicht zu beschädigen. Zudem führt unkontrolliertes Austrocknen schlimmstenfalls zu Schrumpfungen und Rissen und damit zu Schäden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können", sagt Ulrike Töchterle, Leiterin der Restaurierungswerkstatt in Innsbruck. Sie hat die einzelnen Stücke der Elfenbeinpyxis in den vergangenen beiden Jahren nun soweit konserviert, dass sie wissenschaftlich untersucht werden können. „Durch die mit 90 Prozent sehr hohe Luftfeuchtigkeit in der Marmorkiste direkt nach der Bergung war die Gefahr von Kondenswasser- und Schimmelbildung sehr hoch, zu schnell durfte der Inhalt auch nicht austrocknen. Das heißt, wir mussten für einen sehr behutsamen und längeren Trocknungsprozess sorgen." Die größeren Teile sind verformt, weshalb die Pyxis nicht mehr in den Originalzustand versetzt werden kann - die Forscher:innen arbeiten allerdings an einer 3D-Rekonstruktion.
Waren die Archäolog:innen zu Beginn davon ausgegangen, dass sich auch die Hinterlassenschaft eines oder einer Heiligen - also eine klassische Reliquie - im Steinquader befindet, deutet die Schichtung der im Schrein gefundenen Fragmente darauf hin, dass die Elfenbeinpyxis bereits in der Spätantike zu Bruch gegangen ist und im Altar bestattet wurde. „Die Pyxis wurde vermutlich ebenfalls als heilig gesehen und wurde auch so behandelt, sozusagen als Berührungsreliquie. Die archäologische und kunsthistorische Bedeutung der Pyxis ist nicht zu bestreiten", betont Gerald Grabherr.
Heiligendarstellung
Die Pyxis zeigt an einem Ende eine Figur am Fuß eines Berges - der dargestellte Mann wendet den Blick ab, über ihm ragt eine Hand aus dem Himmel, die etwas zwischen die Arme dieser Person legt. „Das ist die typische Darstellung der Übergabe der Gesetze an Moses am Berg Sinai, der Beginn des Bundes zwischen Gott und den Menschen aus dem Alten Testament", sagt der Archäologe. Darauf folgen Darstellungen von biblischen Gestalten. Am Ende sieht man einen Mann auf einem Wagen, vor den zwei Pferde gespannt sind - und auch hier zieht eine aus Wolken kommende Hand diese Figur in den Himmel. „Wir vermuten hier eine Darstellung der Himmelfahrt Christi, die Vollendung des Bundes mit Gott. Typisch für die Spätantike und damit zu unserer Pyxis passend ist die Darstellung von Szenen aus dem Alten Testament und ihre Verbindung mit Szenen aus dem Neuen Testament; vor allem die Darstellung der Himmelfahrt Christi mit einer sogenannten Biga, einem Zweigespann, ist aber sehr besonders und bisher nicht bekannt."
Weitere Untersuchungen
Derzeit läuft noch eine Reihe weiterer Untersuchungen zum Irschener Reliquienschrein, auch mit naturwissenschaftlichen Methoden: „Zum einen ist noch eine exakte Herkunftsbestimmung des Marmors ausständig, und mittels Stabilisotopie-Untersuchungen wollen wir auch die Herkunft des Elfenbeins bzw. des Elefanten bestimmen. Auch metallische Bestandteile - die Scharniere der Pyxis waren aus Metall gefertigt - werden noch näher bestimmt, genauso der Kleber, der für das Elfenbein verwendet wurde", erläutert Restauratorin Ulrike Töchterle. Und nicht zuletzt wurden auch Holzteile in der Marmorkiste gefunden, vermutlich Teile des Verschlusses der Pyxis - nicht völlig ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich ist, dass es sich dabei doch noch um eine Reliquie handeln könnte. „Auch diese Holzteile werden noch näher bestimmt, uns interessiert hier vor allem die Holzart und seine Herkunft, auch das Alter ist dabei spannend", sagt Ulrike Töchterle.
Kontext: Höhensiedlung in Irschen
Irschen ist eine Gemeinde im Kärntner Drautal, seit 2016 führen Archäolog:innen der Universität Innsbruck dort Grabungen durch. Dabei wird eine seit etwa dem Jahr 610 verlassene und bislang völlig in Vergessenheit geratene spätantike Höhensiedlung auf etwa einem Hektar Fläche untersucht. Bislang haben die Forscher:innen dort neben persönlichen Gegenständen der früheren Bewohner:innen der Siedlung bereits mehrere Wohnhäuser, zwei christliche Kirchen und eine Zisterne gefunden und dokumentiert, in einer der Kirchen wurde neben einem sternförmigen Taufbecken auch der Reliquienschrein entdeckt. Gerald Grabherr beschreibt: „Gegen Ende des römischen Reichs wurden die Zeiten unsicherer, vor allem in den Randprovinzen des Reichs, also auch dem Gebiet des heutigen Österreichs. Deshalb gründen die Bewohner:innen ab etwa dem 4. Jahrhundert zunehmend Siedlungen auf Hügeln, die sich besser verteidigen lassen, und verlassen den Talboden." Eine Zäsur bildet das Jahr 610: In diesem Jahr findet die Schlacht von Aguntum nicht weit der Irschener Siedlung statt, ein slawisches Heer trifft auf bajuwarische Heere und Siedler. Mit dieser Schlacht, die die Slawen für sich entscheiden, endet die Zugehörigkeit der Region zur mediterranen antiken Welt und auch zum Christentum - die slawischen Siedler bringen ihre eigene Götterwelt mit. Seit spätestens diesem Zeitpunkt ist auch die Siedlung auf dem Burgbichl verlassen.