Retroviren sind Viren, die sich vermehren, indem sie ihr genetisches Material in das Erbgut einer Wirtszelle einbauen.
Ist die infizierte Zelle eine Keimzelle, kann das Retrovirus anschließend als „endogenes" Retrovirus (ERV) an Nachkommen weitergegeben werden und sich als Teil des Wirtsgenoms in einer Art verbreiten. In Wirbeltieren sind ERVs allgegenwärtig und machen bis zu 10 Prozent des Wirtserbgutes aus. Die meisten Retrovirus-Integrationen sind sehr alt, teilweise abgebaut und daher inaktiv - ihre anfänglichen Auswirkungen auf die Gesundheit des Wirts sind durch Millionen von Jahren der Evolution nivelliert. Ein Forschungsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) entdeckte nun einen aktuell ablaufenden Fall der Retrovirus-Kolonisation in einem Nagetier aus Neuguinea, der Weißbauch-Mosaikschwanzratte. In der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences" beschreiben sie diesen Fall als ein neues Modell für die Virus-Integration in Wirts-Erbgüter. Mit den dabei gemachten Beobachtungen können wir in Zukunft besser verstehen, wie Retroviren die Wirtsgenome umprogrammieren.
Retroviren, wie der Erreger von AIDS (HIV-1), integrieren sich während ihres Lebenszyklus in das Genom derjenigen Wirtszellen, die sie infizieren. Geschieht dies in der Keimbahn (Eizellen oder Zellen, die Spermien produzieren), kann das Retrovirus auf diesem Wege tatsächlich selbst ein Gen des Wirts werden. Dieser Prozess kommt offensichtlich häufig vor, da bis zu 10 Prozent der Genome der meisten Wirbeltiere aus den Überresten solcher uralten Infektionen bestehen. Eines der am besten untersuchten Modelle dieses Prozesses ist das Koala-Retrovirus (KoRV), das derzeit das Genom des Koalas kolonisiert. „Was mit dem Virus und dem Wirt während dieses Prozesses der Genomkolonisierung geschieht, wissen wir nicht genau, da die meisten derartigen Ereignisse vor Millionen von Jahren stattfanden und wir nur die übriggebliebenen ‚Fossilien' der alten Retroviren sehen", erklärt Prof. Alex Greenwood, Leiter der Abteilung für Wildtierkrankheiten am Leibniz-IZW. „Auch wissen wir nicht, was der Wirt während des Übergangsprozesses gesundheitlich erlitten hat. Das Koala-Retrovirus (KoRV) ist ein Modell für diesen Prozess, der in Echtzeit abläuft und bei dem wir beobachten können, welche Auswirkungen die Genomkolonisierung für das Wirtstier hat."
Es gibt nun einige Hinweise darauf, dass mit KoRV verwandte Viren in Nagetieren und Fledermäusen in Papua-Neuguinea und Indonesien zirkulieren. Eine Gruppe unter Leitung von Greenwood und Dr. Saba Mottaghinia, ehemalige Doktorandin in der Abteilung von Greenwood am Leibniz-IZW, untersuchte 278 Proben von sieben Fledermaus- und einer Nagetierfamilie, die nur in Australien und Neuguinea vorkommen, also dort endemisch sind. Die Forschenden haben ein Retrovirus entdeckt, das aktuell das Genom eines endemischen Nagetiers aus Neuguinea besiedelt, die Weißbauch-Mosaikschwanzratte (Melomys leucogaster). Dies ist nach KoRV erst das zweite Beispiel aus dieser Region für ein Retrovirus, das ein Genom kolonisiert und dabei weiterhin einen funktionellen viralen Lebenszyklus beibehält.
Die Gibbon-Affen-Leukämie-Viren (GALV), eine Gruppe von Viren, die in den 1960er Jahren in Gibbons und Wollaffen in einer Forschungseinrichtung in Thailand entdeckt wurden, sind sehr eng mit KoRV verwandt. Dies ist eine überraschende Verwandtschaft, da eine geografische Barriere, die so genannte Wallace-Linie, die Tierwelt Südostasiens von der Tierwelt Indonesiens, Papua-Neuguineas und Australiens trennt. Es gab jedoch Hinweise darauf, dass die Gibbons und Wollaffen in der Forschungseinrichtung mit Viren aus Papua-Neuguinea infiziert wurden. „Die Entdeckung von GALV-ähnlichen Viren bei Nagetieren und Fledermäusen in indonesischen und australischen Nagetieren und Fledermäusen aus Neuguinea deutet darauf hin, dass diese Viren und möglicherweise auch KoRV ihren Ursprung in Neuguinea haben", sagt Greenwood, der das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Forschungsprojekt initiierte.
Das Leibniz-IZW-Team untersuchte gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Charité, des Robert-Koch-Instituts, des Max Delbrück Center, der Universität Nikosia, der California State University Fullerton, des South Australian Museum und des Museums Victoria 278 Fledermaus- und Nagetierproben aus Australien und Neuguinea auf KoRV und GALV-ähnliche Viren. Sie entdeckten ein GALV, das Woolly Monkey Virus (WMV) in einer Population der in Neuguinea heimischen Weißbauch-Mosaikschwanzratte (Melomys leucogaster). Bei fünf der Ratten aus zwei Sammelstellen Neuguineas war das WMV an der gleichen Stelle in das Genom integriert, was darauf hindeutet, dass es sich als Gen und nicht durch Infektion verbreitet hat. Es ist also bereits Teil des Genoms der Art geworden. In anderen Weißbauch-Mosaikschwanzratten-Populationen fehlte das Virus jedoch, ähnlich wie bei KoRV bei Koalas, wo alle im nördlichen Australien lebenden Koalas KoRV in ihrem Genom haben, während es im Süden Australiens Koalas gibt, die kein intaktes KoRV aufweisen. Das Virus, das nun als „complete Melomys Woolly Monkey Virus" (cMWMV) bezeichnet wird, konnte in Labor-Experimenten Zelllinien infizieren, neue virale Nachkommen produzieren und war elektronenmikroskopisch als Viruspartikel sichtbar, die sich von der Zellmembran lösten. Das Virus war sogar empfindlich gegenüber dem antiretroviralen Medikament AZT.
„Das Virus weist alle Merkmale eines exogenen infektiösen Retrovirus auf, ist aber endogen. Es handelt sich wahrscheinlich um ein sehr junges Kolonisierungsereignis, viel jünger noch als KoRV", sagt Mottaghinia, die Hauptautorin des Aufsatzes in den „Proceedings of the National Academy of Sciences". Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass cMWMV ein neues Modell für die retrovirale Besiedlung des Wirtsgenoms ist, die wie bei KoRV gegenwärtig in Echtzeit erfolgt. Die Forschungsergebnisse legen außerdem nahe, dass GALVs wie WMV ihren Ursprung in der vielfältigen Fauna Neuguineas haben. Die Entdeckungen in Neuguinea sind mit Sicherheit noch nicht erschöpft. „Es gibt Hunderte von Arten aus dieser Region, die noch nicht untersucht wurden, was darauf hindeutet, dass noch viel mehr Viren und mögliche Modelle der Virenintegration in dieser Region existieren", so Greenwood.
Das Autorenteam widmet die Studie Ken P. Aplin vom South Australian Museum, der leider im Laufe des Projekts verstorben ist.
Mottaghinia S, Stenzel S, Tsangaras K, Nikolaidis N, Laue M, Müller K, Hölscher H, Löber U, McEwen GK, Donnellan SC, Rowe KC, Aplin KP, Goffinet C, Greenwood AD (2024):
A Recent Gibbon Ape Leukemia Virus Germline Integration in a Rodent from New Guinea.
Proceedings of the National Academy of Sciences 121 (6) e2220392121. DOI: 10.1073/pnas.222039212